Frauenleben. Inspirierende Frauen und ihre Zeit.

Frauenleben. Inspirierende Frauen und ihre Zeit.


Stephanie „Steve“ Shirley (1933–2025)

December 05, 2025

Stephanie Shirley war IT-Unternehmerin zu einer Zeit, in der die IT Pionierleistungen vollbrachte – und Frauen kaum akzeptierte. Sie sagte deshalb oft, sie arbeite bei der Post, und nannte sich Steve. Das wirkte. Gleichzeitig engagierte sie sich für eine bessere Versorgung schwer autistischer Kinder, denn auch ihr Sohn Giles befand sich auf dem Spektrum.

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Stephanie Shirley wird 1933 als Vera Buchthal in Dortmund in eine großbürgerliche, wohlhabende Familie geboren. Ihre Mutter war im österreichischen Krems aufgewachsen und bleibt ihr Leben lang ein sehr distanzierter Mensch. Stephanie fühlt sich ihrem Kindermädchen näher als ihrer Mutter. Sie hat eine vier Jahre ältere Schwester.

Flucht aus Österreich

Ihre Großmutter väterlicherseits, Rosa Buchthal, saß als erste Frau im Stadtrat von Dortmund. Ihr Vater ist Richter, ein brillanter, aber ebenfalls distanzierter Mann von weltfremder Prinzipientreue, der denkt, dass er mit seiner Unbestechlichkeit den Nazis die Stirn bieten könne. Das funktioniert natürlich leider nicht, und die Familie zieht mehrfach um, bis sie erst einmal in Wien landet. Dort überlegen Stephanies Eltern lang, wann und wie sie fliehen sollen, bis dem Vater nichts anderes übrig bleibt, als hastig über die Berge in die Schweiz zu laufen. Sie wollen sich alle in England wiederfinden.

Stephanies Mutter entscheidet sich, ihre beiden Töchter mit dem Refugee Children’s Movement und einem Kindertransport nach England bringen zu lassen. Stephanie ist fünf, Schwester Renate neun Jahre alt. Es ist Juli 1939, wenige Wochen vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs. Von Wien aus fahren etwa eintausend jüdische Kinder mit zwei junge Betreuerinnen nach Großbritannien. „Um den Hals hatte man uns nummerierte Karten gehängt, als wären wir Fundsachen, was wir ja irgendwie auch waren“ (Ein unmögliches Leben, S. 11).

In der neuen Pflegefamilie

Stephanie und Renate kommen bei Guy und Ruby Smith unter, die sie bald Uncle und Auntie nennen. Sie leben in den West Midlands, nördlich von Birmingham, und sie liebevolle, aber sehr viktorianische, pflichtbewusste Pflegeeltern, die bald wie alle unter den Einschränkungen des Krieges leiden. Stephanie findet sich recht schnell bei ihnen ein und sagt später: „Ich musste dafür sorgen, dass mein Leben es wert war, gerettet zu werden“ (S. 20) Sie trägt ihre Überlebensschuld ihr ganzes Leben lang mit sich.

Ihre Mutter schafft es 1940 nach England, aber als Flüchtling darf oder kann sie ihre Töchter nicht zu sich nehmen und kaum einmal zu ihnen reisen. Stephanies Vater wird nach Australien deportiert, geht dann in einen militärischen Hilfstrupp und wird 1941 in England stationiert, aber auch ihn sieht sie kaum.

Renate, der es in ihrem höheren Alter schwerer fällt, sich an die neue Situation zu gewöhnen, überlebt eine Polioerkrankung, was die beiden Schwestern endgültig und für den Rest ihres Lebens zusammenschweißt.

Gut in der Schule

Beide lernen schnell Englisch und gehen in die Dorfschule, wo sie erleichtert über die Offenheit gegenüber Fremden sind – in den nächsten Jahren werden insgesamt 800.000 Kinder aus In- und Ausland aufs Land geschickt. Auch Antisemitismus spielt hier keine Rolle.

Die begabte Renate bekommt ein Stipendium für eine Privatschule und zieht dafür zu ihrer Mutter. Stephanie ist verletzt, dass ihre Mutter sie nicht auch bei sich haben will, auch wenn sie sich mit ihren Pflegeeltern noch so gut versteht. Die beiden unterstützen sie jetzt erst recht und schicken sie auf eine bessere Klosterschule. Gute Leistung ist Stephanie immer wichtig, und so darf sie wegen ihrer Begabung für Mathematik mit 16 Jahren auf ein Jungengymnasium wechseln. Das war, so sagt sie später, eine gute Vorbereitung auf den Sexismus, den sie auch in der Arbeitswelt erfahren würde.

Als der Krieg endlich vorbei ist, erfahren sie nach und nach, dass viele ihrer Verwandten glücklicherweise überlebt haben. Der Vater kehrt zurück nach Deutschland, um dort für das US-Militär als Jurist zu arbeiten, unter anderem auch für den Nürnberger Kriegsverbrecherprozess. Stephanie hat nie wieder ein gutes Verhältnis zu ihm und wird 1965 nicht einmal über seinen Tod informiert. Ihre Mutter lässt sich scheiden und bleibt in England, wo sie als Lehrerin arbeitet.

Start ins Arbeitsleben

Mit 18 entscheidet sie Stephanie sich aus finanziellen Gründen gegen ein Studium, nimmt die britische Staatsbürgerschaft an, lässt ihren Nachnamen zu Brook anglisieren und nutzt jetzt offiziell ihren zweiten Vornamen Stephanie als Rufnamen.

Ihr Start ins Arbeitsleben verläuft gut: Sie bekommt ein Angebot von General Electric und eines vom Post-Office-Forschungszentrum in Dollis Hill, das sie annimmt, da es ihr ein berufsbegleitendes Studium ermöglicht: Sie macht einen Bachelor in Angewandter Mathematik und Physik, studiert außerdem Computerlogik und erhält schließlich einen Masterabschluss vom Birkbeck College. Informatik ist die richtige Richtung für sie, denn als Mathematikerin findet sie „durchaus klug, aber auch nicht genial“ (S. 80).

Die Arbeit im Forschungszentrum langweilt sie trotzdem oft. Sie muss „Graphen zeichnen und mich durch eintönige Berechnungen oder Tabellen wühlen … oder es waren Zahlen in einen Comptometer (eine einfache elektromechanische Rechenmaschine) zu hacken“ (S. 75). Sie arbeitet an einem Zufallszahlengenerator für die Lotterie und interessiert sich für das Thema Spracherkennung.

Und sie weiß, dass am Forschungszentrum anderweitig wichtige Arbeit geleistet wird. So hat es zum Beispiel 1943 den weltweit ersten programmierbaren Elektronenrechner gebaut, der auch in Bletchley Park genutzt wurde. Sie wird zur wissenschaftlichen Assistentin befördert, aber weitere Karrieresprünge werden ihr als Frau nicht ermöglicht, da kann sie noch so gute Arbeit leisten und sich unauffällig und männlich kleiden.

Schließlich entscheidet sie sich, den Job zu wechseln. Das liegt auch daran, dass sie einen Mann kennenlernt.

Hochzeit mit Derek Shirley

Stephanie hatte bereits kleine Liebschaften (wenn die sie anfangs fragen, was sie beruflich macht, antwortet sie, sie sei bei der Post) und auch eine längere Beziehung zu einem verheirateten Mann. Doch sie kann sich nie völlig auf jemanden einlassen, weil sie von ihren Eltern zu viel Zurückweisung erfahren und auch das Trauma der Judenverfolgung noch nicht aufgearbeitet hat. Deshalb entscheidet sie sich für Antidepressiva und vor allem eine Psychoanalyse, die ihr tatsächlich hilft, ihre Muster zu durchbrechen. Bei einem Besuch in Wien 1959 merkt sie, dass die alten Geister keine Macht mehr über sie haben.

Und so frei und erleichtert trifft sie auf Derek Shirley, der ebenfalls im Forschungszentrum arbeitet. Er ist schüchtern, ehrlich und freundlich und gefällt ihr sehr. Sie gehen es langsam an und heiraten erst nach drei Jahren rein standesamtlich. Nicht alle aus seiner Familie glücklich, dass er eine Deutsche heiratet.

Aus finanziellen Gründen ziehen sie weg aus London nach Buckinghamshire, und Stephanie gibt ihren Job auf, weil sie als Ehepaar nicht bei derselben Firma arbeiten möchten. Sie wechselt in die viel dynamischere, besser bezahlte Privatwirtschaft.

Dort beginnt sie bei Computer Developments Limited, wenn auch nur vier Tage die Woche, damit sie nicht erfolgreicher scheint als ihr Mann und auch nicht mehr verdient. Derek ist das ziemlich egal, aber sie hat Angst vor Gerede. Aber auch hier erreicht sie bald die gläserne Decke – und gründet kurzentschlossen ihr eigenes Unternehmen.

Eigenes Unternehmen

Sie nennt es Freelance Programmers und konzentriert sich auf Software. Ein recht neuer Ansatz, weil damals erwartet wurde, dass ein Rechner Hard- und Software umfasst. Sie rechnet jedoch mit einem baldigen Wandel und soll recht behalten.

Sie arbeitet hauptsächlich mit freiberuflichen Frauen zusammen, die sich um Kinder oder andere pflegebedürftige Angehörige kümmern müssen und deshalb in der „normalen“ Arbeitswelt keine Stelle mehr finden, obwohl sie extrem talentiert sind. Viele haben bis zur Hochzeit oder dem ersten Kind zum Beispiel bei IBM gearbeitet, wo aber das Konzept der Teilzeit völlig unbekannt war.

Alles, was sie brauchten, waren ein Bleistift, Papier und ein Telefonanschluss …, damit sie alle auftauchenden Rückfragen mit unseren Festangestellten abklären konnten. Diese handgeschriebenen numerischen Programme wurden dann per Post an ein unabhängiges Rechenzentrum geschickt, deren Mitarbeiter … die Daten in Lochkarten oder Lochstreifen stanzten. Ein anderer Mitarbeiter des Rechenzentrums überprüfte diese Eingabe, indem er das Ganze noch einmal stanzte. Eine verifizierte Karte beziehungsweise ein verifizierter Lochstreifen wurde dann in einem separaten Computerzentrum getestet. … Sofern in dieser Phase kein Problem auftrat, begab sich die Programmiererin, wenn es ihr gerade möglich war, ins Rechenzentrum, um Programmfehler an Ort und Stelle zu beheben. Sonst musste man warten, bis die Ergebnisse per Post zurückkamen.“ (S .151)

Geburt des Sohnes

Auch sie selbst profitiert von der flexiblen Zeiteinteilung, denn sie bleibt auch oft zu Hause, nachdem sie im Mai 1963 ihren Sohn Giles bekommt. Mit ihm umgibt sie „ein Gefühl der Vollkommenheit“ (S. 126).

Das Unternehmen ist so erfolgreich, dass das Finanzamt eine ihrer regelmäßigen Freelancerinnen einmal verdächtigt, zwielichtigen Tätigkeiten nachzugeben so viel Geld, wie sie verdiene. Das Prestige wächst, immer größere Kund:innen kommen zu ihnen. Als Schwerpunkt setzen sie sich Logistik und Unternehmensplanung und definierten Softwarestandards, damals noch ein großer USP. Auch Consulting-Services werden immer öfter nachgefragt. Wenn Stephanie Hilfe bei ihrer Unternehmensführung oder Tipps zu Verkaufstaktiken braucht, bekommt sie in ihrem großen Netzwerk immer irgendwo Unterstützung.

Weil viele ihrer Akquisebriefe unbeantwortet bleiben, unterschreibt sie eines Tages testweise mit „Steve Shirley“ – und sofort ist der Rücklauf viel größer. Nach und nach entstehen immer mehr Softwarefirmen, aber Freelance Programmers bleibt erfolgreich.

Eine schockierende Diagnose

Als ihr Sohn Giles acht Monate alt ist, fällt Stephanie und Derek zum ersten Mal auf, dass er sich nicht mehr normal entwickelt oder sogar Rückschritte macht. Die Diagnose ist schnell klar: Giles hat eine schwere Form von Autismus und wird vermutlich niemals ein selbstständiges Leben führen: Er spricht nicht, vollführt Zwangshandlungen und hat kaum bezähmbare Wutanfälle.

In den 1960er Jahren werden die Eltern (und vor allem die Mütter) verdächtigt, die Ursache für den Autismus ihrer Kinder zu sein: Sie seien gefühlskalt und zu hart zu den Kleinen. Stephanie glaubt das nicht und hat dennoch ein schlechtes Gewissen.

Ich habe meinen Sohn geliebt und wurde doch gelegentlich von dem Gedanken heimgesucht, dass ich ohne ihn besser dran wäre. Ich wollte ihn doch so sehr vor Leid bewahren, konnte aber manchmal einfach auch nicht anders, als ihm dafür böse zu sein, dass von ihm nicht das geringste Zeichen dafür kam, dass er irgendetwas, was Derek oder ich für ihn taten, zu schätzen wüsste. Gelegentlich war ich mir nicht einmal sicher, ob er eigentlich wusste, wer ich bin. Es war für mich kaum auszuhalten, wenn ich nicht bei ihm sein konnte, und ich machte mir dann die größten Sorgen. Und doch rumorte in mir unablässig die Frage, wie mein Leben wohl wäre, wenn ich nicht diese alles verzehrende Verantwortung für diesen unergründlichen keinen Tyrannen gehabt hätte.“ (S. 178-179)

Mit sechs Jahren bringen sie ihn zum ersten Mal in ein Internat namens The Walnuts, in dem er unter der Woche leben kann. Eine Erleichterung.

Doch er wächst heran und kann als Teenager bald nicht mehr bleiben, denn seine Gewalttätigkeit gegen sich und andere wird immer schlimmer. Dazu kommen Epilepsieanfälle.

Überlastung im Privat- und Berufsleben

Stephanies Mutter, ihre Schwester Renate und ihr Pflegevater können alle nur kurzzeitig einspringen, kommen aber mit dem starken, aggressiven, großen Jungen auch nicht mehr zurecht. Gerade Derek ist jedoch dagegen, ihn sedieren zu lassen, wie es allzu häufig mit autistischen Menschen gemacht wird. Stephanie fragt sich irgendwann, ob es nicht eine Gnade wäre, wenn sie zu dritt Suizid begehen würden – nur dass Giles dem nicht freiwillig zustimmen kann, hält sie wohl davon ab.

Gleichzeitig beginnt die große Wirtschaftskrise von 1973, und ihre wichtigste Vertraute gründet ein Konkurrenzunternehmen, was Stephanie sehr verletzt. Sie nennt ihr Unternehmen in F2, dann in F International um und versucht, international zu expandieren. Stephanie muss ihre Statuten ändern, als das britische Gleichberechtigungsgesetz in Kraft tritt: Nur darf sie sich nicht mehr als reines Frauenunternehmen bezeichnen und muss auch Männer einstellen. Offiziell formuliert heißt das in ihrem Leitbild dann: „Menschen mit Angehörigen, die nicht in einem konventionellen Umfeld arbeiten können“.

Ihr Stress führt immer häufiger zu Panikanfällen und schließlich 1975 zu einem Nervenzusammenbruch. Erst nach sechs Monaten der Erholung kann sie langsam wieder anfangen zu arbeiten. Derek möchte in den Vorruhestand gehen, um sich besser um Giles kümmern zu können, doch stattdessen entscheiden sie sich schweren Herzens doch wieder für eine Betreuung. Borocourt scheint modern ausgerichtet, wirkt aber bei einem näheren Einblick trotzdem gefängnisartig – die Räume sind leer, damit sich niemand verletzt, es gibt keine Privatsphäre, die „Insassen“ schaukeln sich gegenseitig mit ihrem Verhalten auf, die Pflegekräfte können nur reagieren statt agieren. Stephanie und Derek haben keine andere Wahl, als Giles unter der Woche dort zu lassen. Ihn fragen, wie er sein Leben empfindet, können sie nicht.

Ziel: Belegschaftseigentum

Im Unternehmen versucht Stephanie währenddessen, eine echte Mitarbeiterbeteiligung bis hin zum Belegschaftseigentum zu erreichen. Nette Boni zu Weihnachten reichen ihr nicht aus dafür, dass ein Unternehmen doch schließlich nur dank seiner Mitarbeitenden erfolgreich ist. Steuerlich ist das Ganze sehr schwierig, doch mit einem Trust wird ihr Plan Wirklichkeit. Die Beteiligung beginnt mit anfangs 4 Prozent, bis sie durch viele weitere Umstrukturierungen Anfang der 1990er bei 62 Prozent landen, die den Mitarbeitenden einiges an Macht ermöglicht.

Beim Börsengang des Unternehmens werden über 70 Mitarbeitende dank ihrer Aktienbesitze zu Millionär:innen. (In diesem Zusammenhang besteht Stephanie im Übrigen auch darauf, in den offiziellen Dokumenten das generische Maskulinum durch das generische Femininum zu ersetzen.)

Stephanie versucht, ihr Unternehmen langsam aus der Hand zu geben. Nacheinander übernehmen andere Frauen die Geschäftsführung, mit deren Entscheidungen und Strategien Stephanie nicht immer einverstanden ist, aber sie gibt sich Mühe, loszulassen und merkt auch, dass ihre eigene Firma ihr immer beliebiger scheint und keine „riesige Großfamilie“ (S. 333) mehr ist.

Stephanie konzentriert sich stattdessen auf verschiedene Kommissionen und Aufsichtsräte: Sie wird die erste Frau in der British Computer Society, sie wird Master der Worshipful Company of Information Technologists (die davon ausgehen, dass die IT eine Schlüsselbranche für den Wohlstand des Landes sein wird, was damals noch nicht so offensichtlich ist), sie ist Treuhänderin bei Help the Aged, sie gehört zum Rat der Industrial Society und ist Schirmherrin Disablement Income Group. Außerdem wird sie zur Diplomingenieurin ernannt, erhält als erste Frau die Goldmedaille des British Institute of Management und berät die damalige Atomenergiebehörde AEA Technology.

Im Jahr 1987 übernimmt die NATO den von ihr vor vielen Jahren entwickelten Qualitätsstandard, was sie sehr stolz macht. Dann folgt die Dotcom-Sause, die Firma wächst und wächst, und selbst nach Platzen der Blase bleibt Stephanie durch ihre Beteiligung weiterhin mehrfache Millionärin. Der endgültige Verkauf 2007 macht sie zur drittreichsten Frau in Großbritannien.

„Ich hatte meine drei Hauptziele erreicht – nämlich ein erfolgreiches und solides Unternehmen zu gründen, dann dessen Kontrolle an die Belegschaft zu übergeben und schließlich für eine in höchstem Maße kompetente Führungsnachfolge zu sorgen. Es gab keinen Zweifel in mir, dass sich all die Strapazen und Entbehrungen gelohnt hatten.“ (S. 378)

Giles’ Betreuung

Auch privat leidet sie unter weiteren Strapazen. Ihre Mutter stirbt an einem Herzschlag und vererbt ihr geringes Vermögen nur an Renate und Giles – Stephanie hat sie bewusst aus ihrem Testament gestrichen. Eine schwere, letzte Zurückweisung.

Dennoch ist das Geld für Giles willkommen: Borocourt wird für die Eltern immer unerträglicher, als weitere Vernachlässigungen ans Licht kommen. Es bleibt ihnen nichts anderes übrig, als das Institut vor Gericht zu bringen. Gleichzeitig wollen sie es sich aber nicht vollständig mit ihm verscherzen, weil sie doch immer noch von ihm abhängig sind.

Sie ziehen in ein neues Haus, wo sie die Einrichtung auf Giles abstimmen und zum Beispiel alle scharfe Kanten entfernen, damit er sich nicht verletzt, wenn er sich vor Wut auf den Boden wirft oder einen epileptischen Anfall bekommt. Dazu stellen sie Vollzeitpflegekräfte ein: große, starke, etwas raue Männer, mit denen Giles offenbar sehr gut zurecht kommt.

So wird er mit 30 Jahren endlich etwas ruhiger und scheint sogar oft zufrieden. Das zeigt er durch „ein eigentümliches Brummen, … womit autistische Menschen zum Ausdruck bringen, dass sie sich wohlfühlen“ (S. 365). Er kann beim Kochen helfen oder malt ein wenig. Sogar ein paar undeutliche Wörter kann er sagen, die zumindest seine Eltern und Pflegekräfte verstehen.

Da seine Versorgung sehr teuer ist, überlegen Stephanie und Derek, eine gemeinnützige Einrichtung zu gründen. Dafür nehmen sie einen weiteren Jungen bei sich auf und gründen weitere Häuser. Das ist mit viel Bürokratie verbunden, aber erfolgreich. Allerdings ist Derek so von den Erlebnissen in Borocourt mitgenommen, dass er allen Institutionen – sogar seiner eigenen – gegenüber skeptisch bleibt. Als die Einrichtung wächst, hat er immer mehr Einsprüche vorzubringen. Er kann das Vatersein nicht vom Treuhändersein trennen. Als Stephanie sich bei Argumentationen gegen ihn stellt, zerbricht etwas zwischen ihnen, was wegen der langjährigen Belastung ohnehin schon angeknackst war.

Sie stehen vor einer Trennung. Stephanie hat sich bereits eine Wohnung gesucht, in die sie im Notfall ziehen könnte.

Doch da ereilt sie eines Morgens die schlimmste Nachricht ihres Lebens: Ihr Sohn Giles ist in der Nacht nach einem epileptischen Anfall gestorben.

Prior’s Court – auch ohne Giles

Es ist ein unfassbarer Schlag für Stephanie und Derek: „Das geliebte, geheimnisvolle, gequälte, schöne Wesen, das fünfunddreißig Jahre lang der Mittelpunkt meines Lebens gewesen ist, war plötzlich und unwiderruflich nicht mehr da“ (S. 414).

Viele Ehen überleben den Tod eines Kindes nicht, aber Stephanie und Derek schweißt er wieder zusammen. Das muss wohl daran liegen, „dass [unsere Ehe] zu der Zeit, als das Schreckliche passierte, schon vor dem Aus stand. Da wir nichts mehr voneinander erwarteten, konnten wir vom anderen auch gar nicht mehr enttäuscht werden, sondern empfanden jede noch so kleine Hilfe, die wir einander zu geben imstande waren, als positive Überraschung, für die wir dankbar waren“ (S. 420/21).

Schon vor Giles’ Tod hatten sie sich um eine neue, größere Einrichtung zur Unterbringung autistischer Kinder gekümmert und schließlich in Prior’s Court gefunden. Das große viktorianische Haus westlich von London musste stark saniert werden. Eine gute Möglichkeit, sich ab und an von der Trauer abzulenken.

Eigentlich wollen sie nach der Higashi-Methode aus Japan mit ihrer Daily Life Therapy unterrichten: Die Kinder erhalten dabei viel Anregung bei klaren Strukturen. Sie werden körperlich ausgelastet, um Frust abbauen zu können, durch einen guten Pflegeschlüssel emotional unterstützt und mit vielen, Sicherheit gebenden Routinen unterrichtet. Stephanie und ihre Mitstreiter:innen bekommen jedoch keinen Franchisevertrag und entwickeln selbst ein ähnliches Konzept.

Im Jahr 1999 wird die Schule eröffnet – ohne Giles, der auch dort hätte hingehen sollen.

Spendensammlerin

Ihre letzten Jahren widmet Stephanie der Philanthropie. Sie gründet die Shirley Foundation. Erst spendet sie breit gefächert, bevor sie sich auf ihr wesentliches Thema konzentriert: den Autismus und dessen Erforschung. Heutzutage gibt es in Großbritannien etwa 130.000 Kinder mit Autismus, 500.000 Erwachsene mit Symptomen sowie ihre Angehörigen. Inzwischen versteht man die Ursachen der Entwicklungsstörungen besser als in Giles’ Kindheit in den 1960ern. Dennoch gibt es noch viel zu erforschen.

Im Spenden sieht Stephanie etwas Instinktives, das anfangs allen Menschen innewohnt. Sie selbst hat bis 2010 etwa 50 Millionen Pfund gespendet und wird nun auch zur britischen Botschafterin für Philanthropie ernannt.

Die Menschen sollen stolz darauf sein, wenn sie spenden. Und sie dürfen sich auch darüber freuen und dabei, wenn sie mögen, auch ein gewisses Konkurrenzdenken an den Tag legen. Ich will damit nicht sagen, dass bei der Philanthropie der Wettkampfgedanke im Mittelpunkt stehen sollte, sondern nur, dass es für die Wohlhabenden keinen Grund geben sollte, sich von ihren Spenden und den Projekten, die sie unterstützen, weniger begeistert zu zeigen als von ihren Jachten, Autos, Rennpferden, edlen Weinen und Ferienhäusern. (S. 465)

Im Jahr 2021 nimmt sie noch an der Enthüllung einer Statue von Ian Wolter in Erinnerung an die Kindertransporte teil und stirbt am 9. August 2025 nach kurzer schwerer Krankheit.

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Quellen (auch für die Bilder):
Dame Stephanie Shirley: Ein unmögliches Leben. Die außergewöhnliche Geschichte einer Frau, die die Regeln der Männer brach und ihren eigenen Weg ging. Goldmann 2020. Übersetzt von Albrecht Schreiber.
Dame Stephanie Shirley: Why do ambitious women have flat heads? | TED Talk

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